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VR Praxis

«Politik und Wirtschaft sind Teil des Ganzen»

Sind sich in einem Punkt einig: Der Druck der Öffentlichkeit ist in der Politik ungleich grösser.
Fotos: Unternehmerzeitung

Viele Betriebe wie SBB oder Swisscom befinden sich im Besitz der öffentlichen Hand. Wie unterscheiden sich die Führungsaufgaben von jenen in der Privatwirtschaft? Wie ist es, wenn Regierungsvertreter im Verwaltungsrat sitzen? Mit Kathrin Hilber und Walter Vogel haben wir uns über das manchmal diffizile Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft unterhalten.

Frau Hilber, Sie waren während 16 Jahren Regierungsrätin im Kanton St. Gallen und sind jetzt Verwaltungsratspräsidentin. Wie haben Sie den Wechsel von der Politik in die Privatwirtschaft erlebt?
Kathrin Hilber Der Sozialbereich, in dem ich jetzt tätig bin, tickt vielleicht etwas anders, doch auch wir sind wirtschaftsorientiert und müssen uns im Markt bewähren. Ich habe den Wechsel sehr positiv erlebt. Es ist viel einfacher als in einem Regierungsamt. In der Politik musste ich bei jedem Geschäft Mehrheiten finden, unterschiedliche Meinungen integrieren. Politik ist viel aufwendiger. Jetzt im Verwaltungsrat geht es um einen klar definierten Auftrag. 

Warum ist der Auftrag in der Politik weniger klar?
Hilber In der Politik ist das Produkt die Gesellschaftsentwicklung, und diese kann man in vielen Fragen nicht eindeutig definieren. In der Politik muss man Prozesse gestalten. Bei der Umsetzung reden zahlreiche Gremien mit: der Bund, der Kanton, die Departemente, die Bevölkerung, alle Parteien. Bei den Unternehmen, in denen ich tätig bin, erteilen die Gemeinden als Aktieninhaber den Leistungsauftrag, der definiert, was umzusetzen ist. Doch innerhalb dieses Rahmens bin ich zusammen mit dem Verwaltungsrat viel freier. 

Hat Sie diese neue Freiheit überrascht?
Hilber Ich war sehr gerne Regierungsrätin und habe mich nie unfrei gefühlt. Überraschend war, wie schön das Leben ohne den permanenten Druck der Öffentlichkeit ist. 

Das klingt so, als ob Ihnen Ihre neuen Aufgaben leicht fallen. Gibt es noch Herausforderungen?
Hilber Bei einem Bauprojekt in Gossau sind wir wegen einer Einsprache seit vielen Monaten blockiert. Das ist herausfordernd. Als Regierungsrätin war ich als Vorsteherin des Departements des Inneren auch Stellvertreterin des Baudepartements. Ich kenne beide Seiten und habe darum einiges Verständnis für Verwaltung und Politik. Ich weiss, wie komplex die Prozesse sind: Man darf keine Verfahrensfehler machen. Natürlich habe ich inzwischen eine neue Sichtweise auf die Politik entwickelt.

Herr Vogel, Sie sind Verwaltungsratspräsident von Unternehmen in öffentlichem Besitz. Davor waren Sie als CEO in der Privatwirtschaft tätig. Mussten Sie neu lernen, sich mit den komplexen politischen Prozessen auseinanderzusetzen?
Walter Vogel Dieser Aspekt ist in der Tat neu hinzugekommen. Auch in einer rein privatwirtschaftlich ausgerichteten Firma haben die Eigentümer vielfältige Erwartungen an das Management, doch der Druck der politischen Öffentlichkeit und die Notwendigkeit, unterschiedlichste Interessengruppen unter einen Hut zu bringen, geben der Führungsaufgabe eine zusätzliche Dimension.

Wäre für Ihr Mandat Erfahrung aus einem politischen Amt von Vorteil gewesen?
Vogel Das glaube ich nicht. Mein Vorteil ist gerade meine Unvoreingenommenheit. Politisch bin ich unbefangen. Dadurch stelle ich auch andere Fragen.

Können Sie Frau Hilbers Aussage bestätigen, dass durch die politische Komponente vieles komplizierter wird?
Vogel Ja, eindeutig. Der unternehmerische Teil fällt mir natürlich leichter, da ich mich mein Leben lang damit beschäftigt habe. Den politischen Teil kann man nicht wirklich «lernen», man muss ihn erfahren. Es braucht ein gutes Fingerspitzengefühl.

Der politische Teil ist komplexer, teilweise mühsam. Warum?
Hilber Politik heisst, dass alle mitreden. Es geht auch um Parteipolitik, vor den Wahlen sowieso. Darunter leidet natürlich die sachliche Auseinandersetzung. Entscheidend war der Paradigmenwechsel in den 80er-Jahren, als man Staatsbetriebe wie die Swisscom, Post und SBB in öffentlich-rechtliche Aktiengesellschaften überführte. Man hatte erkannt, dass Betriebe, die eine operative Leistung im Service public erbringen, unabhängig von der Politik agieren müssen. Darum hat man aus den Staatsbetrieben öffentlich-rechtliche Aktiengesellschaften geschaffen. Der Bund ist Hauptaktionär und erteilt den Leistungsauftrag, damit sie als Unternehmen effizient funktionieren. Wenn die Parteipolitik wie früher jedes Jahr ins Budget eingreifen kann, werden die Betriebe träge. Die Schweiz hat hier gute Schritte unternommen und ist Frankreich oder Deutschland weit voraus.

Trotzdem spielt die Politik nach wie vor eine Rolle in diesen Betrieben.
Hilber Die Politik versucht immer, Einfluss zu nehmen, denn sie definiert den Leistungsauftrag und ist Wahlgremium für den Verwaltungsrat. Die Rollen sind klarer, der Handlungsspielraum ist definiert. Das ist entscheidend.

Die Post-Chefin und Mitglieder des Verwaltungsrats wurden in die Wüste geschickt. Hatte das keine politische Dimension?
Vogel Ich würde da keinen Unterschied machen. In diesen Führungspositionen gehört das zum Job. Dieser Aspekt wird in der Vergütung als Risikoprämie reflektiert. Als CEO oder Verwaltungsrat wissen Sie, dass Sie zur Verantwortung gezogen werden, wenn in Ihrem Verantwortungsbereich Fehler gemacht werden. Das ist in der Privatwirtschaft nicht anders.

Die Integration aller Interessensgruppen, das Lobbying war neu für Sie, Herr Vogel. Kommt es vor, dass Sie sich mit einer faktenbasierten Argumentation kein Gehör verschaffen können?
Vogel Ich mache kein Lobbying, aber ich muss verstehen, welche politischen Faktoren mein Geschäft beeinflussen können. Es ist eine zusätzliche Dimension. Aber es gibt in jedem Umfeld Dinge, die man nur mässig beeinflussen kann.

Könnten Sie nicht manchmal verzweifeln, wenn die Diskussion parteipolitisch motiviert und wenig sachbezogen ist?
Vogel Unser politisches System hat den gewaltigen Vorteil, dass Lösungen durchdacht und breit abgestützt umgesetzt werden. Das braucht halt Zeit. In China werden im Eiltempo riesige Projekte realisiert. Der Staat befiehlt, aber niemand wird gefragt, ob ihm das passt.

Frau Hilber, Sie sprachen die Entwicklung der 80er-Jahre an. Könnte man das Verhältnis zwischen Politik und halböffentlichen Unternehmen noch verbessern?

Hilber Ich finde vor allem wichtig, dass im Verwaltungsrat eine gute Auseinandersetzungskultur herrscht. Das ist viel wichtiger, als an der Struktur herumzubasteln. Wir haben in der Schweiz ein klares System. Es kommt primär auf die Personen an, die die Verantwortung übernehmen. Wenn, wie offenbar bei der Raiffeisenbank, im Verwaltungsrat ein Klima herrscht, das keine echte Diskussionskultur zulässt, ist das natürlich verheerend.

In Ihren Verwaltungsräten sitzen auch öffentliche Vertreter. Wie diskutieren Sie mit ihnen über sachliche Themen?
Vogel Ich musste im Verwaltungsrat auch schon festhalten: Das ist ein politisches Thema und wir sind nicht für die volkswirtschaftliche Entwicklung eines bestimmten Kantons zuständig. Das wurde auch akzeptiert. Ich behandle alle Verwaltungsräte als normale Mitglieder, egal ob jemand einen Background in der Politik oder in der Privatwirtschaft hat. In den von mir geleiteten Verwaltungsräten sind  die Regierungsvertreter sehr sachkompetent und wenn noch nicht, spüre ich einen grossen Willen, sich die Themen zu erarbeiten. Die politische Einflussnahme ist sehr gering.

Ist es auch ein Gewinn, Politiker im Gremium zu haben?
Vogel Ja, natürlich. Wir können eine Firma nicht im luftleeren Raum führen. Sowohl SAK als auch skyguide haben nicht nur eine wirtschaftliche Funktion, sondern auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, einen Grundversorgungsauftrag. Darum ist es wichtig, einen Link zur Politik zu bilden. Entscheidend ist jedoch, dass weder Präsident noch Vize-Präsident Regierungsvertreter sein sollten. 

Man braucht Personen, die einen sachlichen Beitrag leisten können. Wie ist das bei Ihnen, Frau Hilber?
Hilber Ich habe Wert darauf gelegt, dass ich bei der Zusammensetzung des Verwaltungsrates entscheidend mitreden und so auf das Kompetenzprofil des Gremiums Einfluss nehmen konnte. Früher waren Verwaltungsräte halböffentlicher Unternehmen politisch zusammengesetzt, und alle Parteien achteten darauf, dass sie im Gremium vertreten sind. So entstanden meist Organe, denen die Fachkompetenz fehlte. Heute sind die meisten Verwaltungsräte sehr professionell aufgestellt. Zwar sind Regierungsvertreter darin vertreten, aber sie müssen dem öffentlichen Eigner Rechenschaft ablegen. Heute geht es nicht mehr anders: Man braucht fachliche Kompetenz im VR. Bei einer Krise zeigt sich das. Die Raiffeisenbank hatte einen typisch politisch zusammengesetzten Verwaltungsrat.

Vogel Bei der Raiffeisen war es allerdings eine politische Besetzung ohne Not, die Bank ist ja nicht im Besitz der öffentlichen Hand. Das war eine Frage der Governance, dort ist offensichtich vieles völlig schief gelaufen. Wenn heute Verwaltungsräte der Raiffeisen zurücktreten, dann wird sich in den meisten Fällen die Erkenntnis durchgesetzt haben, dass die Bank einen radikalen Neuanfang braucht und dass sie mit ihrem Rücktritt neuen Kräften Platz machen. Ich unterstelle niemandem eine Angsthasenmentalität. Der Fall ist insofern lehrreich, als dass er plakativ aufzeigt, wie man es nicht machen sollte. Das wird für viele heilsam sein. 

Hilber Bei der Zusammensetzung des Raiffeisen-VR ging es wohl vor allem um die öffentliche Reputation und nicht um deren Fachwissen. Professionalisierung hat mit Fachkompetenz zu tun und der damit einhergehenden klaren Rollenverteilung.

Vogel Die Zusammensetzung des VR muss sich aus einer Kompetenzmatrix ergeben. Das ist heute eigentlich Standard. Die entscheidende Frage bei der Verwaltungsratsbesetzung ist: Welche strategische Ausrichtung hat das Unternehmen und welche Fachkompetenzen müssen damit im VR vertreten sein? Und vor allem muss man auch die richtigen Persönlichkeitsprofile finden.

Was kann die Wirtschaft von der Politik lernen und umgekehrt?
Hilber Die Wirtschaft kann von der Politik lernen, Prozesse zu gestalten, um verschiedene Stakeholders miteinzubeziehen. Das bedeutet, eine Kultur des Dialogs zu prägen, Rollenklarheit zu schaffen und transparent zu führen. In der Politik kann nichts verschwiegen werden, alles kommt irgendwann zum Vorschein. Mehr Transparenz ist mein Stichwort für die Wirtschaft. 

Vogel Das Stichwort ist richtig. In der Schweiz sind wir unter anderem deswegen erfolgreich, weil ein gutes Zusammenspiel zwischen Wirtschaft und Politik besteht. Leider vergessen viele Politiker, dass sie eine gesamtgesellschaftliche Führungsaufgabe haben und nicht nur als reine Vertreter von Partikularinteressen agieren sollten.

Einen Wunsch frei: Was wünschen Sie sich für die Schweiz?
Hilber Man sollte den Gemeinschaftsgedanken stärken und vermehrt das Gemeinwohl in den Mittelpunkt stellen, sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft. Heute sind sehr viele Themen in der Politik blockiert, siehe Steuerreform und AHV-Paket. Hier müssen wir konsensbereit bleiben, denn wir brauchen Lösungen.

Vogel Ich kann das nur unterschreiben. Von der Wirtschaft wünschte ich mir überdies mehr Zivilcourage und mehr Bewusstsein, dass man Teil des Ganzen ist.