chevron_left
chevron_right
Management

«Es ist eine tickende Zeitbombe»

Muhammad Yunus auf der Gennex 2018, die vom 6. bis 7. September in Dübendorf stattfand.
Foto: zVg/Gennex

Er gilt als Begründer des Mikrokreditgedankens und Vordenker einer neuen Wirtschaftstheorie. Mit der Grameen Bank hat Muhammad Yunus in Bangladesch ein Kreditvergabemodell eingeführt, das sich weltweit als Mittel der Armutsbekämpfung durchgesetzt hat. Wir trafen den Friedensnobelpreisträger an der Gennex 2018, wo er über die Businessmodelle von morgen referierte.

Sie gelten als Begründer des Mikrokredit-Gedankens. 1983 haben Sie die Grameen Bank gegründet. Wie ist es dazu gekommen?
Ich wollte die Bevölkerung des Dorfes, wo ich damals unterrichtete, vor den Kredithaien schützen. Diese vergaben Darlehen zu hohen Zinsen und brachten die Leute um ihren gesamten Besitz. Ich sagte zu mir: Warum leihe ich das Geld nicht selbst aus? So hat es 1976 angefangen. Das Modell wurde sehr schnell populär und verbreitete sich in ganz Bangladesch. Als wir immer grösser wurden, wollten wir eine eigene Bank gründen, denn nur so liessen sich die rechtlichen Fragen sauber klären. Die Regierung zögerte lange, mir eine Banklizenz zu geben. 1983 schliesslich war es so weit.

Heutzutage gibt es weltweit über 10 000 Finanzinstitute, die Mikrokredite in Entwicklungsländern vergeben. Im Jahr 2001 waren es etwa 3 Milliarden Dollar und jetzt über 90 Milliarden Dollar an Krediten.
Das könnte sein, gleichzeitig möchte ich festhalten: Mikrokredit ist nicht gleich Mikrokredit. Unsere Idee war es, armen Menschen Kleinkredite zu vergeben, die sie ausschliesslich für Investitionen verwenden, um ein eigenes Einkommen zu erwirtschaften. Wir vergeben keine Konsumkredite. Manche Institutionen benutzen die Idee des Mikrokredits, um mit der armen Bevölkerung Geld zu verdienen. So werden sie selbst zu Kredithaien.

Wie schätzen Sie das Mikrofinanzsystem heute insgesamt ein?
Für ein funktionierendes Mikrokredit-System müssen gewisse Bedingungen erfüllt sein. Mikrokredite müssen dazu verwendet werden, um ein eigenes Einkommen zu erwirtschaften. Konsumkredite sind tabu. Wenn jemand kein Einkommen hat, aber einen Kredit für einen Kühlschrank oder einen Fernseher erhält, beginnen die Probleme. Wenn Sie als Finanzinstitut solche Kredite vergeben, sind Sie im Grunde ein Verkäufer eines Produkts, das sie selber finanzieren. Darum vergeben wir auch nur Darlehen mit geringen Zinsen, die für die arme Bevölkerung erschwinglich sind.

In Andhra Pradesh gab es 2010 zahlreiche Selbstmorde unter Mikrokreditnehmern, die ihre Raten nicht mehr bezahlen konnten. Sie gerieten in die Schuldenfalle.
Das waren «falsche» Mikrokredite. Wir haben uns damals kritisch in der Öffentlichkeit dazu geäussert und das verantwortliche Finanzinstitut verurteilt. Dadurch haben wir die indische Regierung dazu gezwungen, einzuschreiten und diese Art vor Kreditvergabe zu stoppen. Sie hat  daraufhin strengere Richtlinien für die Kreditvergabe erlassen. In Andhra Pradesh sind die fragwürdigen Praktiken inzwischen verschwunden.

Im Jahr 2011 wurden Sie vom bengalischen Staat, der Anteile an der Grameen Bank hält, als Geschäftsführer zum Rücktritt gezwungen. Sie haben dieses Vorgehen kritisiert, da der Staat nicht die Kontrolle über eine Bank übernehmen dürfe. Worin besteht das Problem?
Die Regierung fühlte sich von mir womöglich politisch bedroht. In Bangladesch bin ich sehr bekannt und stand über die Grameen Bank mit 9 Millionen Familien und Kreditnehmern in Kontakt. Das entspricht 45 Millionen Einzelpersonen. Damit ist die Bank eine politische Kraft.

Warum ist es gefährlich, wenn der Staat die Kontrolle hat?
Mikrokredite sollten nicht von der Regierung vergeben werden, weil sie damit das Wahlverhalten der Bevölkerung kontrollieren kann. Wenn sie armen Leuten Geld verleiht, begeben sich diese in eine Abhängigkeit zum staatlichen Kreditgeber. Die bengalische Regierung ist nicht an einem nachhaltigen Geschäftsmodell für die Grameen Bank interessiert, sie will sich nur die Stimmen «kaufen». Es besteht ein grundsätzlicher Konflikt zwischen politischen und wirtschaftlichen Zielen.

In Ihrem 2017 veröffentlichten Buch kritisieren Sie das reine Profitstreben des Kapitalismus. Ihre Lösung ist das Konzept der sogenannten «Social Businesses». Was muss geschehen, damit mehr Unternehmen «soziale Unternehmen» werden?
Mein Punkt ist, dass die kapitalistische Theorie von einem grundsätzlichen Irrtum ausgeht. Sie versteht den Menschen als ein ausschliesslich vom Eigeninteresse angetriebenes Wesen. Das ist falsch. Der Mensch wird ebenso von altruistischen Motiven geleitet. Wenn das stimmt, haben auch «soziale Unternehmen» eine echte Chance. Diese engagieren sich für die Lösung sozialer und ökologischer Probleme und reinvestieren ihren Gewinn vollständig ins Unternehmen. Alles, was sie tun, tun sie für die Leute und nicht primär für den eigenen Gewinn. Was sich ändern muss? Wir müssen an den Universitäten und Business Schools eine neue Wirtschaftstheorie lehren. Wir müssen lehren, dass es zwei Arten von Unternehmen gibt, soziale und herkömmliche Unternehmen. Letztlich ist es Ihre Wahl, ob Sie Geld verdienen oder Probleme lösen wollen. Sie können natürlich parallel zu ihrem konventionellen Geschäft soziale Projekte umsetzen. Das tun bereits viele Grossunternehmen wie Danone, Uniqlo oder McCain.

Sie kritisieren in Ihrem Buch weiter, dass sich seit der Finanzkrise die Kluft zwischen Arm und Reich vergrössert hat.
Das gegenwärtige System ist eine tickende Zeitbombe, die irgendwann explodieren wird. Der Wohlstand der Welt konzentriert sich auf immer weniger Personen. Ein paar wenige besitzen mehr als die ärmsten 50 Prozent der Weltbevölkerung. Das ist nicht akzeptabel, und es erzeugt eine grosse Wut in der armen Bevölkerung. 

Die traditionelle Antwort auf die negativen Auswirkungen des kapitalistischen Systems ist der Wohlfahrtsstaat.
Der Wohlfahrtstaat ist nicht die Lösung. Wenn der Staat alles zur Verfügung stellt, werden die Menschen als Bürger entmündigt. Doch sie wollen kein Geld, sondern Chancen. Die staatliche Rolle ist es, Individuen und Unternehmen zu unterstützen und die richtigen Rahmenbedingungen zu setzen. Wenn der Staat zu viel eingreift, entsteht nur mehr Bürokratie. Ein positiver Ansatz wäre beispielsweise, bei der Vergabe von staatlichen Aufträgen «soziale» Unternehmen zu bevorzugen.

Was denken Sie über die Schweiz?
Ein grossartiges Land und ein Finanzplatz von globaler Bedeutung. Schweizer Banken sind in vielen Bereichen führend. Die Frage, die mich interessiert: Wie kann man dieses Know-how im Finanzwesen zum Wohle der ärmsten Bevölkerungsschichten einsetzen? Schweizer Banken könnten hier eine Führungsrolle übernehmen.