Eine unnachgiebige Position zu markieren, wird fälschlicherweise als Zeichen der Stärke verstanden, und insbesondere Männer legen viel Wert darauf, diesem Attribut gerecht zu werden. Diffuse Befürchtungen, aber auch irrationale Aspekte lassen sich vermeintlich am besten mit einer unmissverständlichen Position kaschieren. Die Annahme, der «Kuchen» sei beschränkt, verleitet verständlicherweise dazu, von diesem einen möglichst grossen Teil zu beanspruchen – der Verteilkampf ist lanciert.
Dabei werden grundlegende verhandlungspsychologische Dreh- und Angelpunkte übersehen: Der scheinbar beschränkte Kuchen lässt sich mit dem Aufdecken der eigentlichen Interessen oft vergrössern. Diese begünstigen ein Win-win-Ergebnis, aus welchem beide Seiten den vollen Nutzen ziehen können. Das wiederum ist mit dem Grundgedanken verbunden, die Gegenseite als Teil der Lösung – und nicht des Problems – zu betrachten.
Übersehen wird vor allem auch der folgende Umstand: Wir können die andere Seite in einer Verhandlung nur über deren Interessen steuern. Sie zu kennen, bedeutet keineswegs, mit diesen einverstanden zu sein. Wer nur die Positionen sieht und betont, diagnostiziert sehr schnell einen Konflikt der Interessen, obwohl diese noch gar nicht zur Sprache gekommen sind. Zugleicht steigt die Gefahr, die Beziehungsebene zu belasten, was sich unmittelbar auf den Verhandlungsgegenstand auswirkt. Misstrauen oder die Angst etwas zu verlieren, verhindern ein bestmögliches Ergebnis.
Ein gesellschaftspolitisches Beispiel soll aufzeigen, dass ein prinzipienorientiertes Verhandeln mit dem Fokus auf die wahren Interessen in jeder Situation sinnvoll ist und die grössten Chancen für einen möglichen Verhandlungserfolg eröffnet.
Beispiel: Asylzentrum
Der Kanton X ersucht die Gemeinde Y, in einem kantoneigenen Gebäude 50 Asylsuchende aufzunehmen, die sich vor allem aus alleinstehenden jungen Männern, aber auch Familien mit Kindern zusammensetzen. Das Gebäude steht mitten im Dorf der Gemeinde und daher zweifellos an exponierter Lage, hätte jedoch problemlos Platz für 80 Personen. Das Gespräch zwischen den Verantwortlichen des Kantons und den Gemeindevertretern (inklusive Gemeindepräsident) verläuft aber alles andere als einvernehmlich. Die Gemeinde protestiert vehement gegen die aus ihrer Sicht viel zu hohe Zahl unterzubringender Personen und weiss in dieser Frage den Grossteil der Bevölkerung hinter sich. Diese erwartet von der Gemeinde denn auch, dass sie in der Lage und willens ist, dem Kanton die Stirn zu bieten. Der wiederum sieht sich in der stärkeren Position (Vollstreckung des Bundesauftrags) und weist darauf hin, dass das Gebäude mit der vorgesehenen Anzahl Personen objektiv betrachtet noch längst nicht ausgelastet sei und andere vergleichbare Gemeinden zahlenmässig deutlich mehr belastet würden. So verläuft die Verhandlung zwischen den beiden Parteien vorerst ergebnislos.
Position verdeckt Interessen
Das vorliegende Beispiel beschreibt einen klassischen Positionenstreit mit vermeintlich unvereinbaren Interessen. Genau diese gilt es jedoch erst einmal aufzudecken, selbst wenn die Ausgangslage völlig klar scheint: Die Gemeinde ist nicht gewillt, der zahlenmässigen Vorgabe des Kantons zuzustimmen. Erst das intensive Nachfragen, worauf denn die Abwehrhaltung der Gemeindeeigentlich beruhe, brachte Erstaunliches an den Tag.
Die Position signalisiert, es gehe um die Anzahl der unterzubringenden Personen. Mit der zentralen Lage der vorgesehenen Unterkunft mitten im Dorf verbindet die Gemeinde jedoch vor allem ein Sicherheitsproblem (eigentliches Interesse). Der Gedanke an alleinstehende und herumlungernde junge Männer verunsichert die Dorfbevölkerung. Die eingenommene Position und die eigentlichen Interessen kontrastieren somit völlig. Erst aufgrund dieser Erkenntnis ist es jetzt überhaupt möglich, mit einer Lösungsvariante (Option) ein für beide Seiten einvernehmliches Ergebnis anzustreben. Der Kanton respektiert die besonders exponierte Lage des Asylzentrums und macht der Gemeinde den Vorschlag, in diesem speziellen Fall nur Familien mit Kindern unterbringen zu wollen (keine alleinstehenden jungen Männer). Die Gemeinde ist unter diesen Umständen gewillt, die vom Kanton vorgeschlagene Zahl der Unterbringung sogar zu erhöhen!
Wäre der zu Beginn entstandene Positionenstreit nicht zu lösen gewesen, hätte ein hart und unnachgiebig geführter Verteilkampf womöglich zu einem zahlenmässigen Kompromiss geführt, der letztlich für beide Seiten suboptimal ausgefallen wäre. Mit Sicherheit hätte dadurch auch die Beziehungsebene gelitten, was für künftige Verhandlungen stets ein Handicap ist.
Interessen bewegen
Dieses Beispiel ist stellvertretend für unzählige weitere, die ganz andere Situationen abbilden. Der Kerngedanke bleibt stets der gleiche: Verhandlungsparteien lassen sich nur über ihre Interessen steuern, die transparent werden müssen, um die Ausgangslage zu klären und eine Verhandlungsbasis zu schaffen.
Im Unternehmensalltag funktionieren die beschriebenen Prinzipien völlig analog. Wenn etwa in einer Preisverhandlung die eine Seite der andern zu hohe Preise vorwirft, dann ist die übliche Reaktion die Verteidigung eben dieser Preise. Die beiden Parteien diskutieren also darüber, wer Recht hat (Positionenstreit) – und damit kommen sie einer möglichen Lösung keinen Schritt näher. Vielmehr liegt hier grosses Potenzial für eine zusehends verhärtete Situation und einer Belastung der Beziehungsebene. Erst wenn die Verhandlung in einen Wir-Prozess mündet, rückt ein mögliches gemeinsames Ergebnis in den Mittelpunkt – ohne Verlierer auf der einen oder andern Seite.
Das lässt sich mit lösungsorientierten Fragen und Vorschlägen bewirken, welche die Interessen beider Seiten ansprechen: Was können wir denn tun, um unsere unterschiedlichen Vorstellungen unter einen Hut zu bringen? Allenfalls eine grössere Bestellung realisieren, um damit den Preis senken zu können. Was spricht dagegen, dass wir... Dieses Vorgehen öffnet den Blickwinkel, generiert dadurch neuen Verhandlungsspielraum und Möglichkeiten für Lösungsalternativen (Optionen).
Wer ist der Auftraggeber?
Und ein ganz wesentlicher Gedanke sei hier noch angefügt. Wer verhandelt, steht oft auch unter einem Erwartungsdruck der auftraggebenden Seite bzw. der eigenen Unternehmung. Wer das erkennt, muss sich überlegen, ob eine mögliche Lösung dem Gegenüber zugleich erlaubt, sein Gesicht zu wahren. Die Rede ist bildlich gesprochen von einer «Goldenen Brücke», über die man aufeinander zugehen kann und die andere Partei dort abholt, wo sie sich befindet.
Wenn im erwähnten Beispiel der Asylunterbringung der Gemeindepräsident dem Erwartungsdruck der Bevölkerung und seiner Wählerschaft ausgesetzt ist, muss der Vorschlag des Kantons auch darauf abzielen, eine Lösung anzustreben, die jenem nicht als Schwächezeichen ausgelegt werden kann, wenn er darauf anspricht.
Verhandlungen gelingen oder scheitern zu einem grossen und vielfach unterschätzten Teil aufgrund einer gezielten oder eben unterlassenen mentalen Vorbereitung. Auf der «Tribüne» (Ort der Vorbereitung und Reflexion) können wir uns mit dem Blick auf das «Spielfeld» (Verhandlungsgeschehen) bewusst vornehmen, was wir in einer anstehenden Verhandlung bewirken, erreichen oder vermeiden wollen. Auf dem Spielfeld herrscht Action, hier muss umgesetzt werden, was in der Vorbereitung angedacht worden ist. Nicht zuletzt geht es auch um emotionale und körpersprachliche Signale, auf die wir achten sollten: Wie wollen wir der Gegenseite begegnen, was möchten wir atmosphärisch auslösen, wie nehme ich mein Gegenüber wahr? Jede Verhandlung kann scheitern, selbst wenn wir alles richtig machen. In einem gezielten methodischen Vorgehen liegt jedoch enormes Potenzial, eine solche zum Gelingen zu führen.