Da sitzt er ruhig in der Ecke des Cafés. Beobachtet das Geschehen an der Bar. Und empfängt dann den Gesprächspartner mit einem warmen Lächeln. Oliver Fiechter, ein Wirtschaftspublizist und Philosoph, den man sich in Gedanken zuvor ein bisschen anderes vorgestellt hat.
Schnell wird im Diskurs mit dem grossgewachsenen, dunkelhaarigen Mann klar, dass sich hier einer über die Wirtschaft und die Gesellschaft mehr als nur bloss ein paar Gedanken gemacht hat. Und nicht erst seit heute – ein Blick in die Archive zeigt, dass sich Oliver Fiechter schon lange mit der Ökonomie, den Unternehmen und einer Herangehensweise beschäftigt, die ganzheitlicher Natur ist. Die Sinn stiften will. Von dem zeugen auch seine am ISG St. Gallen, einer privaten Forschungsorganisation, entwickelten Ansätze sowie seine Bücher. Apropos Buch: Sein drittes Wirtschafts-Buch ist er gerade am Schreiben. Man darf gespannt sein. Wir führten mit Oliver Fiechter ein langes und ausführliches Gespräch – mit einer überraschenden Ankündigung zum Schluss.
Lieber Oliver Fiechter, das Accounting und Reporting in den Unternehmen ist stark zahlenfixiert. Macht das noch Sinn in der heutigen Business-Welt – fehlt da nicht noch was?
Differenziert betrachtet, sind nicht die Zahlen per se das Problem, sondern unser Mindset, die Geisteshaltung, die den Zahlen zugrunde liegt. Zahlen sind wertneutral. Eine Zahl ist lediglich ein technischer Behelf, eine Art Krücke, die wir nutzen, um uns zu orientieren und kommunikativ in der Welt besser zurechtzufinden. Zahlen schlagen die Brücke zwischen der objektiven und der subjektiven Welt.
Das ist doch toll. Weshalb kritisieren Sie dann in Ihren Büchern und in Ihren Kommentaren immer wieder das traditionelle Controlling und Accounting?
Weil wir zunehmend Scheinobjektivitäten nachjagen und die Subjektivität ausblenden. Wir messen alles, was gemessen werden kann. Zahlen können sehr wertvoll sein. Indem sie die Welt komprimieren, schaffen sie eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Wirklichkeit. Wenn aber nur noch zählt, was zählbar ist, entkoppeln sich die Zahlen von der menschlichen Realität. Sie beginnen, eine vom Menschen isolierte Wahrheit auszustrahlen. Zahlen werden dann gefährlich.
Inwiefern?
Zahlen sind ein technisches Werkzeug wie beispielsweise ein Hammer. Der Hammer ändert seine Bedeutung und Wirkung abhängig von der Einstellung, Neigung und Motivation desjenigen, der ihn nutzt. Mit einem Hammer kann man jemanden verletzen oder gar töten, mit ihm lässt sich aber auch ein Dachstuhl zimmern, um Raum für Geborgenheit zu schaffen. Ich stelle fest, dass unser Umgang mit Zahlen zusehends degeneriert. Vom Werkzeug des Messens und einer verbesserten Kommunikationsfähigkeit verkommt es zum Kontroll- und Überwachungsinstrument.
Die Problematik des Messens lässt sich demnach nicht am Messen selbst erklären, sondern an dem, wie wir mit dem Gemessenen umgehen?
Richtig. Zahlen sind potenzielle Energieträger, die Energie empfangen, sobald sie vom Betrachter im Moment der Interpretation mit Energie aufgeladen werden. Wir dürfen den Zahlen keine Bedeutung geben, die ihnen nicht zusteht. Das macht uns kontextblind. Wir beherrschen das Werkzeug dann nicht mehr, das Werkzeug beherrscht uns.
Zahlen beeinflussen also die Art wie wir die Welt wahrnehmen?
Mehr noch, sie beherrschen uns. Wir stecken inmitten einer Zahlendiktatur. Der blinde Gehorsam gegenüber der Autorität der Zahlen hat eine Dimension angenommen, die krankhaft ist. Der sich verbreitende Daten-Wahnsinn ist eine logische Konsequenz daraus.
Das Binärsystem als Brandbeschleuniger?
Die Digitalisierung hat die Pforten der Hölle endgültig geöffnet und die Quantifizierung zum Jekami gemacht: Jeder misst, bewertet und rated jeden. Mein Smartphone-Hersteller misst meinen Puls; mein Arbeitgeber bewertet meine Performance; der Staat rated mein soziales Verhalten. In unzähligen Bereichen wie Finanzen, Sicherheit, Wirtschaft, Medizin, Versicherungen, Mobilität und Marketing greifen Algorithmen in unser Leben ein und analysieren uns ununterbrochen. Scores, Likes, KPIs, Benchmarks und Dashboards bestimmen unser Schicksal, in dem sie uns artifizielle Bemessungsgrenzen setzen.
Das klingt nach Versklavung.
Das ist die totale Versklavung. Inzwischen glauben wir sogar, mit den banalen Mitteln der Metrisierung liesse sich die Wirklichkeit erfassen und die Zukunft auf Basis von Vergangenheitsdaten vorhersagen. Die Datenspeicher der Techkonzerne sind die Gulags des digitalen Zeitalters.
Das sind harte Worte.
Sehen wir der Realität ins Auge. Wir werden immer mehr zu digitalen Leibeigenen entwertet. Der ergebnisoffene Zufall, der die menschliche Freiheit begründet und uns vor der Determination beschützt, wird mehr und mehr auf Wahrscheinlichkeitsrechnungen verengt. Das Individuum verschwimmt in statistischen Mittelwertbetrachtungen, bald wird es komplett untergegangen sein. Wir sprechen nicht mehr zu den Zahlen, sondern die Zahlen sprechen zu uns.
Warum ist das schlimm?
Weil Zahlen mächtige Mittel der Meinungsbildung darstellen. Sie üben sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene einen grossen Einfluss auf uns aus. Mit Zahlen wird individuell menschliches Verhalten manipuliert. Zahlen vernebeln unsere Sinne. Selbst abstruseste Denkmodelle lassen sich heute durch Zahlen gesellschaftlich legitimieren. Mit ausreichend Zahlen untermauert und – Simsalabim! – schon werden aus bunten Fürzen Thesen, die plausibel scheinen und das Potenzial zur vermeintlichen Wahrheit in sich tragen. Das ist der digitale Turmbau zu Babel.
Können Sie ein konkretes Beispiel anführen?
Die Mär vom ewigen Wirtschaftswachstum ist der grösste sozial-politische Spaltpilz der Moderne. Menschen werden heute nicht mehr qualitativ unterschieden, sondern quantitativ. Zahlen besitzen aber keine Substanz. Sie weisen keine Qualitäten auf. Reich oder arm zu sein, ist lediglich das Ergebnis einer formalen Teilung. Die Zahlengerade suggeriert uns Wachstum und Fortschritt durch kontinuierliche Quantität.
Sie sagen also ökonomisches Wachstum sei reine Selbsttäuschung?
Ich will es so formulieren: Die zentrale Glaubensthese im kapitalistischen Katechismus stellt eine Selbsttäuschung dar, weil sie im Kern quantitativ ist. Das Quantitative stellt oft eine unzulässige Vereinfachung dar, die zu falschen Schlussfolgerungen führt.
Sind Kapitalismus und Rationalismus demnach untrennbare Zwillinge?
Wäre unsere einst ganzheitliche Weltsicht nicht teilweise durch Logifizierung und Quantifizierung der Welt ersetzt worden, würden wir heute dem Kapital nicht diese uneingeschränkte Macht einräumen. Die Marktwirtschaft ist ein Kind des Rationalismus. Ohne René Descartes und seinen Dualismus von Körper und Seele und ohne Gottfried Wilhelm Leibniz, dem geistigen Vater der Quantifizierung, wäre unsere Gier nach immer mehr weniger ausgeprägt.
Weshalb tun wir uns so schwer, uns von dieser ökonomischen Wachstumsillusion zu befreien?
Wir sitzen dieser Lüge auf, weil sie so schön rational daher kommt. Das ist das Kohärenzprinzip von Wahrheit: Etwas wird als wahr angenommen, weil es plausibel ist. Wir rennen sehenden Auges ins Verderben, weil wir überzeugt sind, unser Leben hänge vom Bruttoinlandprodukt und unser Schicksal vom Kurs-Gewinn-Wachstums-Verhältnis einer Aktie ab. Wachstum ist zum sozio-kulturellen Zahlen-Fetisch entartet in Form von Mengeneinheiten: Je mehr, desto besser.
Was schlagen Sie vor?
Wir brauchen Steuerungssysteme, die deskriptiver sind und wertfreiere Betrachtungen ermöglichen. Entscheidender als die harten Fakten sind für mich deshalb die Softfaktoren – der Sinn, der zwischen 0 und 1 verborgen liegt.
In Zukunft geht es demnach darum, politische Organisationen und Unternehmen mehr sinnorientiert statt finanzorientiert zu steuern?
Kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Ich anerkenne die kommunikative Bedeutung der Zahlen und des Messens. Aber wir haben heute eine Dysbalance, weil Zahlen überhandgenommen haben. Die Frage, ob etwas positive Resonanz erzeugt oder nicht, wäre für mich das qualitative Korrektiv, um sich gegen die Übermacht der Zahlen erfolgreich zu wehren.
Haben Sie schon etwas konkretes in Planung?
Ich arbeite aktuell mit Experten aus verschiedenen, vornehmlich kreativen Bereichen wie Kunst, Publizistik, Musik an einer Art dritten Rechnungslegung. In naher Zukunft sollen Unternehmen nebst der klassischen Bilanz- und Erfolgsrechnung eine Sinnbilanz veröffentlichen können.
Eine Sinnbilanz tönt spannend. Was ist das genau?
Die Sinnbilanz soll eine Reflexions-, Transformations- und Innovationsgrundlage werden, die Unternehmen beim Sinnieren hilft. Einmal im Jahr als Ergänzung zu den harten Zahlen können Unternehmen im Austausch mit ihren Anspruchsgruppen wichtige Sinnfragen diskutieren. Die Sinnbilanz legt Zeugnis darüber ab, inwieweit ein Unternehmen wahre Werte schafft, in dem sie über den grossen Profit hinaus Sinn stiftet.
Müsste sie nicht eingebettet sein in ein Sinn-Ecosystem? Und für alle Unternehmen verpflichtenden Charakter haben? Wie wollen Sie das sicherstellen?
Die Einführung einer Sinnbilanz muss auf Freiwilligkeit basieren. Unternehmen zu zwingen, sich über Sinn und Unsinn Gedanken zu machen, ist lächerlich. Das funktioniert nicht. Echter Wandel lässt sich nicht von aussen anstossen. Will man im System und nicht am System Veränderung erzeugen, setzt das tiefe Einsicht voraus. Die Politik kann höchsten Impulse setzen und flankierend für entsprechende Anreize sorgen. Ich plane deshalb für nächstes Jahr die Lancierung einer Sinn-Stiftung, die sich für mehr ökonomische und soziale Sinnhaftigkeit im digitalen Zeitalter einsetzen wird.
Soll das eine gemeinnützige Stiftung werden?
Ja. Die Idee ist es, eine Plattform zu kreieren, die Sinnmacher mit Sinnstiftern vernetzt. Menschen mit dem Willen zur Transformation sollen auf Menschen mit entsprechendem Beziehungs-, Finanz- und Wissenskapital treffen, die ihr persönliches Commitment zur Transformation abgeben. Die Sinn-Stiftung wird sinnstiftende Projekte von Dritten begleiten und fördern, aber auch eigene Projekte initiieren. Die Sinnbilanz ist ein solches Projekt.
Herr Fiechter, besten Dank für das Interview und Ihre Einsichten.